Die ideale Vorstellung, die ich mir von meiner Mutter die ganzen Jahre über geschaffen hatte, ist am Bröckeln. Ich hatte seit jeher eine starke, unverwundbare Mutter sehen wollen, die meiner Vorstellung von ihr gerecht wird. Wenn auf jemanden Verlass wäre, dann auf die Person, die einem am nächsten stehen sollte, die einen wirklich kennen sollte, so wie man ist, der man alles bedeuten sollte. "Mutti, du machst alles für mich, du lässt mich nie im Stich." Dieser Vorstellung ist sie aus eigenem Antrieb, aus ihrer eigenen Angst heraus, keine gute Mutter zu sein, darüberhinaus auch noch nachgekommen, hat versucht, ihr gerecht zu werden, damit ihr Kind nicht merkt, dass sie auch nur ein Mensch mit Schwächen und Ängsten ist und durchaus nicht so unberührbar ist, wie es den Anschein hat. Ich wollte aber sie verletzbar sehen, anstatt mich so zu zeigen. Oft habe ich so getan, als ob mir das, was meine Mutter über mich denkt, am Arsch vorbeigeht, aber das war nie der Fall. Mir war es nie egal, ob sie stolz auf mich ist oder ob sie das gutheisst, was ich mache. Stattdessen habe ich meine Unsicherheit nie kommuniziert, sondern bin immer in die Offensive gegangen, um ihre Liebe zu mir zu testen. Wie weit kann ich gehen, ohne sie zu verlieren? Sowas kann ja nur in die Hose gehen. Ich habe mich unverletzbar zeigen wollen, habe mir meine eigene Unsicherheit nicht eingestehen wollen. Heute ist es mir dann zum ersten Mal wirklich deutlich geworden, was ich mir die ganze Zeit vorgetäuscht habe. Der Sockel, auf den ich meine Mutter gesetzt hatte, ist wackelig geworden. Ich bin maßlos enttäuscht. Hauptsächlich von mir selber, was ich da für ein Schauspiel aufgeführt habe. Trotz allem fühle ich mich irgendwie erleichtert, dass ich nun beginne, klarer zu sehen. Der Brocken lag mir schon länger im Magen.